Der Anfang

 

Am Anfang meines Interesses für Bonsai stand ein Geschenk. Eine gute Freundin schenkte mir vor einigen Jahren ein kleines Büchlein über einen Mann, der im Frankreich nach dem zweiten Weltkrieg in einem verödeten Landstrich wohnte. Dort wurde er von einem Fremden besucht, dem sein seltsames Gebahren aufgefallen war.

Der Mann ging jeden Tag eine lange Strecke, bis er einen Landstrich erreichte, den er präzise auszusuchen schien. Dann schritt er jeden Tag einen kleinen Teil des Landstriches ab, wobei er alle zwei Schritte stehenblieb, eine schwere Eisenstange hob und ein Loch in den Boden rammte. Anschließend bückte er sich, legte etwas in das Loch und verschloß es mit ein wenig Erde. So ging es Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat.

Immer, wenn der Mann abends in sein Haus zurückkehrte, sortierte er aus einer großen Anzahl gesammelter Eicheln genau 100 Stück aus, prüfte sie sorgfältig und nahm sie am nächsten Tag mit auf seine Wanderschaft. Er pflanzte Eichen, um die verödeten Landstriche wieder zu beleben. Es war ein mühsames Geschäft, er tat es ohne die Aussicht, die Früchte seiner Arbeit genießen zu können. Er tat es, weil er es für gut und richtig hielt, und weil es getan werden mußte, um die karge Landschaft wieder zum Erblühen zu bringen.

Zu dem Buch, das die Geschichte enthielt, gab es eine kleine Tüte Samen, die ich aussähte. Von den Samen ging nicht einer auf, aber im Frühjahr bemerkte ich, daß in den Ritzen meines Balkons, wo das Herbstlaub den Winter überdauert hatte, kleine Pflanzen wuchsen. Ich brachte es nicht übers Herz, sie alle wegzuwerfen. Ein paar der Pflanzen behielt ich und stellte nach einiger Zeit fest, daß es kleine Ahornpflanzen waren. Diese pflegte ich einige Jahre. Als ich aber bei einem meiner vielen Umzüge in den letzten Jahren in eine Wohnung zog, die weder einen Balkon noch einen Garten hatte, musste ich sie abgeben. Ich ließ die Ahorne und einige andere Pflanzen bei einem ehemaligen Nachbarn im Garten. So ganz trennen konnte ich mich aber dann doch nicht, ich behielt den kleinen Steckling einer Zelkowe, der inzwischen zu einem sehr schönen, kleinen Baum herangewachsen ist.

Als ich einige Zeit später mit meiner Lebensgefährtin  in eine Wohnung mit Garten umzog,  packte es mich richtig. Ich kaufte mir einige Jungpflanzen, später dann auch einige ältere Exemplare, und setzte mich intensiver mit den kleinen Bäumen auseinander. Zuerst stellte ich fest, daß es mir Spaß machte, die Bäume einfach nur anzuschauen. Ich wurde oft ganz ruhig, wenn ich sie betrachtete. Dann begann ich, mir auch die Bäume in der freien Natur genauer anzuschauen. Bäume und Landschaften bekamen plötzlich einen Ausdruck, den ich früher nicht wahrgenommen hatte. Auch mein Verständnis von Bonsai wandelte sich allmählich und ganz langsam. Ich betrachtete die Bäume nicht mehr nur, sondern ich begann, die Stimmungen wahrzunehmen, die ich beim Betrachten von Bäumen, Landschaften und Bonsais empfand. Jeder Baum, jede Landschaft und jeder Bonsai hatte einen ganz spezifischen Ausdruck, wirkte auf ganz besondere, eigene Art auf mich.

Ich begann, mir Literatur zu besorgen, um Hinweise für die richtige Pflege und Gestaltung zu bekommen. In dieser Phase war ich sehr im Kopf. Ich vergaß  die Stimmungen der Bäume fast vollständig und beschäftigte mich hauptsächlich mit formalen Gestaltungskriterien. Nach einiger Zeit fiel mir auf, daß ein Baum, egal ob Bonsai oder frei wachsend, für mich nur noch ein Gegenstand der formalen Analyse war, der keine Stimmung mehr transportierte, sondern den ich nur noch danach beurteilte, inwieweit er formalen Gestaltungskriterien genügte. Wuchs beispielsweise ein Ast an der "falschen" Stelle, dann fiel der Baum bei mir durch und ich würdigte ihn keines Blickes mehr.

Erst seit kurzem spüre ich manchmal wieder, wie ein Baum ist, was er mir zu sagen hat, obwohl er nach formalen Kriterien betrachtet nicht optimal gewachsen ist. Ich bin etwas weicher geworden, nicht nur bei der Beurteilung von Bäumen. Die formalen Kriterien sind Hilfsmittel. Sie stellen Anregungen dar, die ich bei der Erziehung von Bonsai beachten kann. Letztlich muß aber ein Bonsai eine Stimmung erzeugen können, er muß eine Idee transportieren. Ähnlich einem kunstvollen Bild, wo nicht allein die Ebene der äußeren Betrachtung existiert, sondern auch eine innere Bedeutungsebene mitschwingt, die der Maler ausdrückt und die beim Betrachten des Bildes empfunden wird.

 

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