Den Rahmen schaffen

 

Ich habe einige Zeit gebraucht, um hier etwas zu schreiben. Mir fiel lange nichts ein, oder besser sollte ich wohl sagen, ich konnte lange Zeit  nicht ausdrücken, was meiner Meinung nach hier stehen sollte. Auf dem Weg sein heißt für mich in erster Linie Entwicklung, das heißt, ein bestehendes Verständnis zu erweitern, das heißt lernen und verstehen.

Lernen und Verstehen hat sich für mich in den letzten Jahren gewandelt. Es funktioniert nicht mehr in erster Linie über den Verstand und die Einordnung von Erfahrungen in bestehende Denkmuster. Lernen und Verstehen ist für mich eher ein intuitiver Prozeß des Erspürens geworden als ein Prozeß des Vergleichens und Einordnens.

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Was hat das nun mit Bonsai zu tun?

Die Beschäftigung mit Bonsai hat mir den beschriebenen Wandlungsprozeß bewußt gemacht. Die Beschäftigung mit Bonsai ist oft ein Gleichnis. Die dort beobachteten Zusammenhänge lassen sich in vielen Situationen des täglichen Lebens wiederfinden.

Lassen Sie mich ein Beispiel bringen. Bei der Pflege der Bonsai sind wir geneigt, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen - wir wollen einen möglichst prachtvollen Bonsai. Können wir den aber herstellen oder "machen"? Ich denke, das können wir nicht. Wir können nicht wirklich beeinflussen, ob aus dem Baum ein Bonsai wird. Das liegt letztlich nicht in unserer Macht. Aber können wir denn überhaupt nichts tun? Das ist so auch nicht richtig, denn wir müssen sogar etwas tun - nämlich die Voraussetzungen dafür schaffen, daß aus der Pflanze ein Bonsai werden kann. Diese Voraussetzungen werden durch die tägliche Pflege, durch die Schnitt- und Formungsarbeiten geschaffen. Aber das sind eben nur die Voraussetzungen - den Bonsai machen wir damit nicht.

Im täglichen Leben ist es oft nicht anders. Wir schaffen einen Rahmen, innerhalb dessen sich die erwünschten Dinge einstellen können. Aber bei vielen Dingen können wir nicht wirklich machen, daß sie passieren. Wenn wir allerdings keine Mühe in die Schaffung des Rahmens investieren, dann passiert überhaupt nichts.

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Die Beschäftigung mit Bonsai macht darüberhinaus viele der eigenen Denkmuster und Vorurteile bewußt. Am deutlichsten zeigte sich das bei mir in der Bewertung von Bäumen. Nach einer langen Zeit des Betrachtens von Bildern hochwertiger Bonsai begann ich, einen Bonsai allein nach der Einhaltung von Gestaltungsregeln zu beurteilen. Erst das immer wieder neue Betrachten von Bonsai, und nicht von deren Bildern, brachte mich zurück zu der Fähigkeit, die Bäume nicht formal-sachlich einzuordnen, sondern ihre Ausstrahlung zu spüren. Ein Baum kann formal richtig gestaltet sein und trotzdem wenig Ausstrahlung besitzen. Ein anderer mag formale Mängel haben, besitzt aber eine sehr starke Ausstrahlung. Ich schaue den Baum an, kann mich einfach nicht abwenden, kehre immer wieder um und frage mich, worin die Wirkung des Baumes besteht, was seine Faszination ausmacht. Der Baum beschäftigt mich. Bei längerer Betrachtung beginnt er zu erzählen. Der Baum scheint sich zu öffnen, so wie ich mich öffne, meine Denkmuster verlasse, und wir treffen uns auf einer Ebene jenseits der normalen Betrachtung. Auf dieser Ebene spüre ich den Baum, seine Wildheit oder Sanftmut, lerne sein Wesen erkennen und lasse mich führen.

 

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