Leer werden

 

Mir ging es in der letzten Zeit schon einige Male so, daß ich mir etwas vorgenommen habe. Je länger ich mich dann aber mit diesem Vorhaben auseinandersetzte, desto weniger hatte ich Lust, es auch tatsächlich durchzuführen. Ich beschäftigte mich zwar immer noch damit (beispielsweise der Gestaltung oder Überarbeitung eines Bonsai), aber anstatt zu tun, was ich ursprünglich vorhatte, begann ich, mich im Kopf mit der Sache zu beschäftigen, und zwar immer intensiver.

Ein einfaches Beispiel. Es ist Frühjahr und damit Zeit, einige meiner Bäume umzutopfen und zu überarbeiten. Anstatt nun einfach hinzugehen und das zu tun, begann ich viel und immer mehr darüber zu lesen. Während des Lesens nahm die innere Spannung immer mehr zu, und ich wich dieser Spannung aus, indem ich noch mehr über das Umtopfen las.

Nach einiger Zeit (mal sind es Wochen, mal sind es Tage) kommt immer der Punkt, an dem ich die innere Spannung nur noch dadurch abbauen kann, daß ich auch tatsächlich etwas tue. In diesem Beispiel ging ich endlich vorgestern in meine Werkstatt und topfte die ersten beiden Bäume um. Danach fühlte ich mich entspannter, aber den Baum, den ich eigentlich umtopfen wollte, hatte ich noch nicht einmal vorbereitet (eine alte Aprikose, die ich vor dem Umtopfen von ihren inzwischen bereits etwas welken Blüten befreien wollte). Gestern war es dann soweit - nachdem ich eine Reihe anderer Bäume umgepflanzt hatte, machte ich mich endlich an die Aprikose. Nach dem Bearbeiten des Baumes war meine innere Spannung - wie schon öfter - einem Zustand von Entspannung und innerer Ruhe gewichen, in dem ich sehr gut arbeiten kann. In diesem Zustand empfinde ich meine Tätigkeit nicht mehr als etwas, das ich machen muss. Vielmehr scheint sich die Tätigkeit von selbst zu ergeben. Ich muss mich nicht anstrengen, sondern ein Schritt ergibt sich folgerichtig aus dem vorhergehenden - ich brauche lediglich mitzugehen.

Ich kann dann sehr lange arbeiten - es ist wie ein Herausfließen dessen, was ich vorher durch das Lesen (oder eine andere Art der intellektuellen Beschäftigung) in mich aufgenommen (oder sollte ich sagen: hineingestopft?) habe. Dieser Prozeß des Leer-werdens hat etwas Reinigendes. Die Dinge rücken wieder an den ihnen gemäßen Platz. Die intellektuelle Auseinandersetzung kann als das erkannt werden, was sie ist - ein Mittel zur Umsetzung einer bestimmten Absicht, aber kein Selbstzweck.

Die intellektuelle Auseinandersetzung muss immer ein Ziel haben, auf das hingearbeitet wird. Ist kein Ziel da und wird die intellektuelle Beschäftigung lediglich um ihrer selbst willen betrieben, dann wird Zeit vergeudet, indem totes Wissen angehäuft wird, anstatt Erfahrungen zu machen (also lebendiges Wissen zu erwerben).

Wer voll wird und aufnimmt, der muss auch irgendwann wieder leer werden und loslassen können. Wer den Weg von der intellektuellen Beschäftigung zum Handeln nicht findet, der wird sich weiter mit totem (theoretischen) Wissen vollstopfen, ohne etwas zu bewirken.

 

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