Das zentrale Prinzip

 

In den letzten Monaten hat sich für mich  Vieles zusammengefügt, das ich vorher  getrennt voneinander betrachtet habe. In den verschiedenen Bereichen meines Lebens, die mich besonders beschäftigen, traten Erlebnisse auf, die mich - jedes für sich -  bereits stark beschäftigten. In der letzten Zeit hatte ich oft das Gefühl, daß es da eine Verbindung gibt. Ich konnte sie allerdings nicht benennen, es blieb bei einem Gefühl.

Die ersten Zusammenhänge fielen mir bei den Partnerübungen des Tai Chi Chuan auf. Das Tai Chi empfinde ich als eine sehr wertvolle Übung, weil es bei fortschreitendem Üben  zu einer sehr ausgeprägten Körperwahrnehmung führt. Übe ich allein, dann beschränkt sich die intensive Körperwahrnehmung auf mich und den umgebenden Raum. Bei Partnerübungen ist das jedoch anders. Hier betrifft die gesteigerte Wahrnehmung nicht nur mich allein, sondern auch den Übungspartner. Der Kontakt mit dem Anderen löst etwas in mir aus, der andere wirkt auf mich, genauso wie ich auf ihn wirken kann. Übe ich mit einem Partner, der ähnlich sensibel ist wie ich, dann komme ich manchmal zu einer extrem gesteigerten Wahrnehmung der Übungssituation. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers, der Statik, des Gleichgewichtes erhöht sich. Gleichzeitig spüre ich den Übungspartner, seinen Körper und die Art, wie er auf mich einwirkt. Das geht soweit, daß die Absicht des Partners intuitiv erkannt und darauf reagiert werden kann. Dieses intuitive Reagieren fühlt sich an, als würde eine Billiardkugel auf einer Nadelspitze balanciert. Es gibt nur einen wirklichen Moment, in dem die Billiardkugel mit der Nadel effektiv bewegt werden kann. Es gibt ebenso nur einen kurzen Augenblick, in dem ich eine Aktion so durchführen kann, daß sowohl der Übungspartner als auch ich eine Einheit bilden. Wird dieser Augenblick verpasst, dann verliert die Aktion ihren Fluss und den natürlichen Verlauf. Das ist der Moment, an dem der Verstand die intuitive Reaktion aufnimmt und noch versucht, die begonnene Aktion zuendezuführen. Ist mein Übungspartner jedoch wach und sensibel, wird er das bemerken und seinerseits reagieren - meist wird er die von mir mit dem Verstand ausgeführte Aktion umkehren und zu seinem Vorteil nutzen.

Die Partnerübungen des Tai Chi machten mir auf einer körperlichen Ebene die Zusammenhänge deutlicher, die bei der Kommunikation zwischen Menschen ablaufen. Es gibt weit mehr als eine verbale Ebene der Kommunikation. Und was wichtiger ist - jede wahrgenommene Ebene lässt sich durch weitere Übung verfeinern. Dabei hängt der Grad meiner Wahrnehmung in erster Linie vom Grad der Aufmerksamkeit ab, den ich für mich, meinen Gegenüber und den umgebenden Raum aufbringen kann. Bin ich beispielsweise sehr müde, dann reagiere ich kaum auf das, was von meinem Übungspartner kommt. Bin ich sehr mit mir selbst beschäftigt, nehme ich zwar meine eigene Körperstatik wahr, ich bin aber nicht in der Lage, meinen Partner und dessen Aktionen wahrzunehmen. Erst wenn mir mein eigenes Verhalten und das meines Übungspartners bewusst werden, ist die Verbindung hergestellt. Dann kann es zur Verfeinerung der Wahrnehmung kommen, die ich versucht habe zu beschreiben.

Wichtig für diese Art von Übungen ist also Aufmerksamkeit, die sowohl nach innen gerichtet ist (zu mir) als auch nach außen (zum Partner). Die Aufmerksamkeit darf weder nur in die eine noch nur in die andere Richtung fließen.

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Die Richtung der Aufmerksamkeit spielt allerdings nicht nur bei Partnerübungen im Tai Chi (oder Judo oder ähnlichen  Kampfkünsten) eine große Rolle. Dort wird es nur sehr deutlich, weil die Konsequenzen der Unaufmerksamkeit sofort spürbar werden. Auch in ganz alltäglichen Situationen läßt sich erfahren, in welche Richtung die Aufmerksamkeit fließt. Ist sie nach außen gerichtet, beispielsweise beim Durchqueren einer großen Ladenpassage? Oder ist die Aufmerksamkeit bei mir, bin ich zentriert und in mir ruhend, während ich beispielsweise das Essen zubereite, den Tisch decke oder abwasche? Machen sie dazu einfach ihre eigenen Experimente. Ich verspreche Ihnen, daß sie eine ganze Menge von Aufschlüssen bekommen werden.

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Warum ist die Richtung der Aufmerksamkeit von so zentraler Bedeutung? Auch hierzu möchte ich ihnen ein kleines Experiment vorschlagen. Nehmen wir an, sie besitzen einen kleinen Kunstgegenstand, der für sie eine gewisse Bedeutung hat. Diesen Gegenstand nehmen sie nun in einer ruhigen Minute zur Hand und betrachten ihn genau. Was fällt ihnen daran auf? Wie fühlt sich der Gegenstand an? Was löst er in ihnen aus? Ein Gefühl des Behagens, des Stolzes oder der Freude?

Gehen sie nun mit ihren Gegenstand in eine volle Einkaufspassage oder an eine belebte Strassenkreuzung und betrachten sie ihn erneut. Wie ist die Wirkung jetzt? Unterscheidet sie sich von der Wirkung im ersten Versuch?

Im ersten Versuch befanden sie sich in einer ruhigen Situation, sie konnten sich auf ihren Gegenstand konzentrieren und spüren, daß er eine Wirkung in ihnen auslöst. Das war möglich, weil die Richtung ihrer Aufmerksamkeit sowohl nach außen (zu ihrem Gegenstand) als auch nach innen (zu ihnen selbst) ging. Sie haben sowohl den Gegenstand wahrgenommen als auch sich selbst und die ausgelöste Wirkung gespürt.

Im zweiten Fall waren sie sehr wahrscheinlich wesentlich mehr mit den Reizen beschäftigt, die aus der Umgebung auf sie einströmten, als das wahrzunehmen, was ihr Gegenstand in ihnen ausgelöst hat.

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Mir wurden diese Zusammenhänge im Lauf der letzten Monate etwas klarer. Wichtig war für mich in diesem Zusammenhang aber auch noch eine andere Erfahrung, die ich bei der Gestaltung von Bonsai machte. Wenn ich einen Bonsai gestalte , dann wirke ich nicht nur auf den Bonsai - der Bonsai wirkt auch auf mich. Ich trete durch die Bearbeitung in eine Beziehung zur Pflanze, in deren Verlauf nicht nur die Pflanze sich ändert, sondern auch Veränderungen in mir stattfinden. Diese Veränderungen nehme ich aber nur wahr, wenn meine Aufmerksamkeit nicht nur bei der Pflanze ist, sondern auch bei mir verweilt. Die Richtung der Aufmerksamkeit geht also sowohl nach außen zum Bonsai, als auch nach innen zu mir. Dann spüre ich, wie der Baum auf die Veränderungen reagiert, wie die Gestaltungsmaßnahmen seine Ausstrahlung und Wirkung verändern und welche Wahrnehmungen das in mir hervorruft. Ich habe damit eine neue Ebene der Interaktion mit dem Baum gefunden.

Später, in Gesprächen mit meiner Lebensgefährtin, bemerkte ich, daß die gleichen Gesetzmäßigkeiten auch in der Interaktion zwischen zwei Menschen wirken. Auch hier ist es so, daß die Richtung meiner Aufmerksamkeit  bestimmt, was ich wahrnehme. 

 

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